Syntaktisches Arbeiten statt Deuten

Ein ethisches Vorgehen bei Systemischen Strukturaufstellungen

Aus Sicht der Systemischen Strukturaufstellungen ist es wünschenswert, dass gleichzeitig mehrere Strukturebenen angesprochen werden und der Transfer zwischen verschiedenen   Deutungsebenen ermöglicht wird. Syntaktisches Arbeiten in Coaching und Beratung führt so zu nachhaltigeren Ergebnissen und bekommt eine ethische Bedeutung.

Wer hat die Deutungshoheit?

Wenn wir uns die Frage stellen, für wen in einem systemischen Beratungsprozess Bedeutung generiert wird, ist die Antwort aus Sicht Systemischer Strukturaufstellungen eindeutig: für die Kunden bzw. für das Kundensystem. Wie können wir die Deutungshoheit denen überlassen, die wir beraten, coachen u.ä.?. Lernen, in die Haltung des Nichtwissens zu gehen, in der fragenden Haltung zu bleiben, auf Deutungen, Hypothesen zu verzichten, gehört zu jedem systemischen Handeln.

Wegzugehen von einer Deutung öffnet den Raum für mehrere passende Deutungen.

Wenn beispielsweise vier Personen in einem Raum angeordnet stehen, können wir nicht unterscheiden, ob diese vier Personen eine Familie darstellen oder ein Team oder ein Körpersystem. Was die vier Personen darstellen, ist die Struktur ihrer Beziehung. Wir können sehen, wer für wen sichtbar ist, wer abseits steht, wer auf etwas anderes ausgerichtet ist. Die Mimik der Personen kann zeigen, wer sich wohlfühlt und wem es schlecht geht. Was nicht erkennbar ist, wen die Elemente darstellen. Das öffnet einen Raum für unterschiedliche Deutungen.

So kann in einer Gruppe mit einem Anliegen mit Strukturaufstellungen gearbeitet werden, die Anliegenbringerin findet ihr Thema, ihre Geschichte wieder, für beobachtende Personen kann sich jeweils ihre eigene Geschichte zeigen.  Beiden Geschichten ist die Struktur gemeinsam, nicht der Inhalt.

In der organisations- bzw. teaminternen Arbeit ist auf diese Weise möglich, verdeckt zu arbeiten und so die Privatsphäre im beruflichen Umfeld zu schützen.

Syntaktisches Arbeiten statt Deuten

Diese Form des Arbeitens, also von der eindeutigen Bedeutungsgebung abzurücken zugunsten der puren Struktureigenschaften der Prozesse wird von Sparrer & Varga von Kibéd als syntaktisches Arbeiten bezeichnet.

Arbeit mit Unterschieden hilft, auf Deutungen verzichten zu können. Deshalb wird bei Strukturaufstellungen unterschiedsbasiert und bevorzugt mit abstrakten Elementen gearbeitet, denn je abstrakter ein Wort, desto höher der metaphorische Inhalt. Das erleichtert den Übergang zwischen verschiedenen Deutungsebenen und die Übertragung auf andere Bereiche. Auch die Beobachter können das Beobachtete leichter mit Eigenem verbinden, auch wenn die Geschichte eine andere ist. Es gibt nicht die richtige Geschichte, nicht die richtige Deutung, aber eine passende Struktur, die unterschiedlichen Deutungen gemeinsam ist und sie miteinander verbindet.

Dieses Prinzip finden wir auch in der folgenden Sufi-Geschichte:

Jemand beklagte sich bei einem Sufi-Weisen, die Geschichten, die er erzählte, würden von manchem so und von anderen wieder so ausgelegt.

„Genau darin liegt ihr Wert“, sagte darauf dieser. „Du würdest bestimmt nicht viel von einer Tasse halten, aus der du zwar Milch, aber kein Wasser trinken, oder von einem Teller, von dem du nur Fleisch, aber kein Obst essen könntest. Tassen und Teller sind einfache Geräte. Die Frage ist nicht: „Auf wie viele verschiedene Arten kann ich dies verstehen, und warum nicht nur auf die eine?“ Die Frage lautet richtig: „Hat dieser Mensch einen Nutzen von dem, was er in den Geschichten findet?“

Nachhaltige Lerneffekte durch syntaktische Arbeit

Wenn also  auf diese Weise syntaktisch gearbeitet wird und gleichzeitig mehrere Strukturebenen angesprochen werden können,  wird auch der Transfer zwischen ähnlich empfundenen Bedeutungsebenen leichter möglich. Denn Verstehen ist immer auch ein assoziativer Prozess.

Bei einer Tetralemmaaufstellung können diese beispielsweise die Strukturebene der Entscheidungsalternativen sein, gleichzeitig die Strukturebene der unterschiedlichen Lebensphasen, die mit diesen assoziativ verknüpften Werthaltungen und gleichzeitig die Strukturebene  der Hierarchieebenen in einer Organisation sein.

Die gleiche Struktur kann also gleichzeitig Bedeutung bekommen in meinen Entscheidungen, Lebensphasen, Werthaltungen, Hierarchieebenen in meiner Organisation, die alle assoziativ  verbunden sind. Es hat alles die gleiche Syntax aber vier verschiedene Bedeutungsebenen.

So ist es möglich, von einem Bereich des Lebens für einen anderen Bereich zu lernen. Ich kann eine Einsicht haben über meine Lebensgeschichte und daraus einen anderen Bezug haben zu meinen Werthaltungen. Ich kann einen anderen Bezug haben zu meinen Werthaltungen und das beeinflusst mein Entscheidungsverhalten. Ich kann ein verändertes Entscheidungsverhalten haben und das hat einen Einfluss auf meinen Einsatz in meiner Organisation.

Lernen heißt nicht, nur für die jeweilige Situation etwas zu lernen. Lernen heißt vielmehr, es auf andere Bereiche, andere Situationen übertragen zu können.

Wenn innere Filme ablaufen und wenn jemand „ah, das bedeutet auch noch das und jenes“ sagen kann, wenn jemand also die Struktur erkennt und es übertragen kann, entsteht Lernen und ein tiefes Verstehen wie Insa Sparrer meint.

Deshalb wird bei Strukturaufstellungen bevorzugt mit logischen Strukturen, abstrakten Elementen gearbeitet, denn je abstrakter ein Wort, desto höher der metaphorische Inhalt. Das erleichtert den Übergang zwischen verschiedenen Deutungsebenen und die Übertragung auf andere Bereiche.

Syntaktisch arbeiten als ethisches Vorgehen bei Strukturaufstellungen

Matthias Varga von Kibéd sieht in der fortschreitenden Syntaktisierung auch ein ethisches Vorgehen im Sinne von Heinz von Foersters ethischem Imperativ: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“ bzw. seine erweiterte Form aus SySt-Sicht: „Handle so, dass der Raum der relevanten Möglichkeiten für dich und dein Gegenüber wächst.“

Was immer uns bei einer Entwicklung oder einer Auflösung von Problemen behindert, hat normalerweise Bezüge zu noch nicht aufgelösten problematischen Bedeutungsgebungen.

Gelingt es nun, zunehmend deutungsarme, syntaktischere Betrachtung einzuführen, verschwindet die Anhaftung an diese Bedeutungsgebungen immer mehr und die Fixierungen verlieren ihre Macht über uns. Wir können uns lösen und emanzipieren von Abhängigkeiten und Gewohnheiten.

„Es ist eben schwer, ein Vorurteil aufrechtzuerhalten, wenn man nicht weiß, worüber“ ist eine Aussage von Matthias Varga von Kibéd.

Esin Suvarierol, Februar 2022

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